Freitag, 16. September 2022

Meeraufwand

Das Serienpublikum schimpft und jubelt dieser Tage über die bizarre Sondersituation, von gleich zwei großen Fantasystoffen heimgesucht zu werden. House of the Dragon ist eine, vom Autor begleitete, Verfilmung des Buches Fire & Blood aus dem A Song of Ice and Fire-Universum. Rings of Power eine Mittelerdeserie, die auf alles und nichts referiert. Ich schätze diese Informationen reichen aus, um einen berechtigten Verdacht davon haben zu können, welche Serie gerade kontroverser diskutiert wird. Aber warum ist das eigentlich so? 

Um diese Frage zu beantworten, kann man ganz vorne anfangen und sich überlegen, was künstlerische Fiktionen überhaupt für verwunderliche Dinger sind, mit ihrer Aufgabe uns (im Idealfall) auf besonders ästhetische Art und Weise anzulügen. Das hat vor zweihundert Jahren zumindest ein schlauer Dichter getan und in der Folge, die sogenannte Theorie von der Suspension of disbelief aufgestellt. Diese geht davon aus, dass sich Menschen mehr oder weniger bewusst auf eine Fiktion einlassen müssen, ohne dabei das Wissen aufzugeben, dass es sich dabei um eine Unwahrheit handelt. Dieser Pakt mit einer Geschichte kann und muss zu bestimmten Bedingungen geschlossen werden. Zum Beispiel darf eine Fiktion nicht völlig unzusammenhängend sein, sondern muss ihre eigenen Gesetze kultivieren, an denen sich Betrachterinnen orientieren können. Ovid beginnt seine Metormorphosen mit dem schicksalshaften Satz: 

"Ehe es Meer, Land und den allumschließenden Himmel gab, hatte die ganze Natur ringsum einerlei Aussehen; man nannte es Chaos: eine rohe, ungeordnete Masse, nichts als träges Gewicht und auf einen Haufen zusammengeworfene, im Widerstreit befindliche Samen von Dingen, ohne rechten Zusammenhang"

Und muss diesen Zustand gleich darauf schon wieder aufgeben, um in eine Fiktion überwechseln zu können, die der orientierten Betrachtung fähig ist. 
Normalerweise spricht man hier von der Konsistenz eines Kunstwerkes. Ein Qualitätskriterium das so großen Stellenwert genießt, dass inkonsistente Werke eigentlich nur dann eine Chance auf Wertschätzung haben, wenn sie den Regelbruch ganz bewusst vollziehen um dadurch lediglich auf einer höheren Ebene konsistent zu sein. 

In der Popkultur haben Begriffe wie "kanonisch" oder "lore" einen neuen Stellenwert. Sie zielen auf ein Konsistenzbewusstsein, dass die Rahmen der Kunstwerke oft weit überschreitet. Nicht selten auch die Kunstgattungsgrenzen, wie im Fall von HotD und RoP. Ich glaube, dass die Forderung nach Konsistenz in dieser Breite nur ästhetisch gerechtfertigt werden kann, wenn man dazu übergeht, den Verbund dieser Geschichten – das Universum, wenn man so will – selbst als Kunstwerk zu begreifen. Hier kann man einwenden, dass das weder eine große Umstellung, noch ein moderner Schritt ist. Begriffe wie Gesamtkunstwerk sind schließlich nicht neu und die Kunstgeschichte ist voll von Strömungen und Schulen, die sich kollektiv bestimmten Regeln unterwerfen. Recht neu scheint hier nur zu sein, dass sich der Anspruch der werkübegreifende Konsistenz auf die Ebene der Wordbuildings ausweitet. Was die kreativen Möglichkeiten natürlich in einer anderen Weise einschränkt als in der Frage, welche Motive und Themen ich bearbeite oder wie ich welchen Pinsel halte. Anders bedeutet dabei natürlich nicht "schwerer" oder "leichter", aber eben "anders". Auch hier kann man ältere Erzählungen ausmachen, die schon in dieser Tradition standen, bevor sie eine Tradition war, wie den Cthulhu-Mythos. Alles in allem scheint das aber eine Verlagerung von Konsistenzbewusstsein zu sein, die sich erst in den letzten Jahrzehnten in bedeutsamer Weise durchgesetzt hat. 

Hier kann man natürlich fragen, was das mit den darunter liegenden Geschichten macht und ob es aus Betrachterinnensicht überhaupt langfristig attraktiv sein kann, die Autonomie vieler Einzelkunstwerke gegen ein konsistentes Gesamtkunstwerk einzutauschen. Wenn die Fiktion in der Beurteilung immer erst daraufhin abgefragt werden muss, wie konsistent sie sich ins Gesamtgefüge eingliedert, ist damit möglicherweise irgendwann ein Grad der Verallgemeinerung erreicht, auf dem die Einzelkunstwerke zu bloßen Dienstleistern ihrer Universen werden. Damit ist gemeint, dass bestimmte Serien/Filme/Bücher primär noch die Aufgabe erfüllen, Arbeit am Gesamtkunstwerk zu leisten. Dieses zu erweitern, zu modifizieren, weiter auszuleuchten. Diese Tendenz zeichnet sich nicht nur in den Pfadabhängigkeiten der expandierenden Universen ab, in denen immer weniger kreative Entscheidungen von den einzelnen Erzählungen selbst getroffen werden können, sondern auch an den Anspruchshaltungen, die schon heute bestehen. Man solle einmal eine Serie über X machen, man solle doch nochmal genauer zeigen, wie das damals mit Y war, man könne doch auch einmal den Ort Z auf die große Leinwand bringen, das würde sicher ganz atemberaubend. 

Hier kann man sehen, dass der Fokus des Konsistenzbewusstseins auf gattungsübergreifendes Worldbuilding in eine Anspruchshaltung führen kann, die immer schon vorher bescheid weiß, was in neuen Geschichten zu lesen oder zu sehen sein wird bzw. sein sollte. Dass so etwas in kreative Sackgassen führen kann, sieht man nicht zuletzt an der Verlegenheitsentscheidung von Disney, im Star Wars Universum zwischen canon und legends zu unterscheiden. Anders hätten die damals geplanten Fortsetzungen von Episode 6 einfach nicht mehr überraschen können. Fragwürdig an dieser Geschichte ist nicht nur, dass Fiktionen teilweise mit Qualitätskriterien beurteilt werden, die nicht zwangsläufig etwas über die Stärken und Schwächen des Kunstwerks an sich aussagen müssen, sondern auch, dass Institutionen relativ willkürlich, darüber entscheiden können, an welche Erzählungen diese Ansprüche gelegt werden dürfen und an welche nicht. 

Das wird nirgendwo so deutlich wie an der unterschiedlichen Beurteilung von HotD und RoP. Beide Serien entfernen sich an wesentlichen Stellen von ihren Vorlagen. Die fehlende Buchnähe, die der Mittelerdeserie als Schwäche ausgelegt wird, gibt bei HotD allerdings Anlass zu Spannung. Das hat damit zu tun, dass der Autor der Vorlage Fire & Blood, diese im Buch als unsichere Erzählungen und Legenden markiert hat, während die Serie nun erzählen soll, wie es wirklich war. Dadurch muss in den Serien kein Frame ausgetauscht werden. Trotzdem verändert die Entscheidung eines Mannes grundlegend, wie das Verhältnis von Buchvorlage und Verfilmung am Ende bewertet wird. 

Wollen wir das? Wollen wir unser Kunsterlebnis wirklich immer darauf befragen, was in anderen Serien, Filmen, Comics, Videospielen oder Büchern passiert ist? Und fühlt es sich nicht irgendwie nach Betrug an, dass Einzelpersonen oder Konzerne dann trotzdem noch die Hälfte eines Universums mit einem Fingerschnipsen auslöschen können, wie so ein schlecht geschriebener Comicbösewicht? 

Ich für meinen Teil mag keine schlecht geschriebenen Comicbösewichte und ich mache mir zwar gerne Mehraufwand, aber kein Meer von Aufwand.

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